Mittwoch, 23. Dezember 2015

Mit dem Zug in die Polarnacht

Es ist Ende November. Die NOB verlässt den Bahnhof Richtung Sylt. An Bord herrscht fröhliche Feierabendstimmung. In Niebüll müssen wir umsteigen. Leise rauscht der Zug durch die dänische Nacht gen Kopenhagen oder Københaven - Cöbnhaun gesprochen. Wir sind jetzt im skandinavischen Sprachkosmos, ich verstehe fast jedes geschriebene aber kein einziges gesprochenes Wort. In Østerport steigen wir aus. Thilo und Hanna empfangen uns herzlich in ihrer Altbau Wg. Es gibt Kürbissuppe. Thilo ist Lebensmittelchemiker: "Norwegen hat den weltweit größten pro Kopf Verbrauch an Tiefkühlpizzen", weiß er zu berichten und stimmt uns schonmal ein auf das Ziel unserer Reise. Am nächsten Morgen ergiebiger Dauerregen. Schwere Regentropfen laufen die Wangen der kleinen Meerjungfrau hinab und sie wirkt noch trauriger als sonst. Wir trotzen dem Regen in dicken Jacken und raschelnden Regenhosen, die Kapuzen tief über die Stirn gezogen. Die Einheimischen kommen uns in Sakko und Lederschühchen entgegen. Sie wirken völlig trocken bis auf die Haare aber das ist mehr Pomade als Regenwasser glaube ich. 


Im autonomen Freistaat Christiania blicken wir durch krumme Fenster in zusammengeflickten Fassaden in teure Designerküchen. Vor einem ausgebauten Bauwagen steht ein 3000 Euro teures Rennrad. Die Dealer im Greenlight District haben ihre Stände in Tarnnetze gehüllt seit die Regierung fordert den Verkauf weniger sichtbar zu gestalten. Wir schländern durch die Einkaufsmeile zurück in Richtung WG. Im Schaufenster eines Dessougeschäftes stehen zwei junge Frauen in Unterwäsche mit Zipfelmützen auf dem Kopf und grüßen die vorbeiströmenden Passanten.  Kurz bevor wir wieder an der WG sind hört der Regen auf und die Sonne scheint durch eine Lücke flach unter die tief hängende Wolkendecke und beleuchtet die klassizistischen Fassaden. Abends geht die Reise weiter. Zunächst mit einem Nahverkehrszug nach Malmö. Ein junger Mann hat keine Papiere und wird von den Grenzern aus dem Zug geführt. Die Szene wirkt verstörend routiniert auf beiden Seiten. In Malmö wechseln wir in den Intercity nach Stockholm. Vor mir schnarchen zwei untersetzte Jungs ungehemmt in tiefen ungesunden Atemzügen; vor sich zwei leere Energydrinks. Spät Nachts rollt der Zug in den Stockholmer Hauptbahnhof. Der Weg zur Jugendherberge verläuft immer am Wasser vorbei am Grand Hotel und gewaltigen Palastgebäuden, eine erhabenes Bild. Für uns führt der Weg in den Schlafsaal der Jugendherberge. Unter den Dachschrägen stehen in zwei Reihen 17 kleine Betten, es sieht aus wie in einem von Grimms Märchen; das mit den Zwergen. Einer schnarcht und direkt über meinem Bett, das einzige, das noch frei war schnurrt eine laute Lüftung. Am nächsten Tag schleppen wir uns mit tiefen Augenringen wie in Trance durch die verregnete Altstadt. Die engen Gassen, der raue Putz und die Pastelltöne der Fassaden erinnern mich sehr an Süddeutschland. Im Fluss tauchen Schellenten und einige Lach- und Strommöwen fliegen umher. Zwischendurch knabbern wir Schwedisches Gebäck. Es sieht aus wie in Dänemark und kommt in allen Formen und Farben aber am Ende schmeckt alles enttäuschend penetrant würzig, ich glaube es ist Kardamom. Sogar das Brot schmeckt nach dem Zeug. Abends steigen wir in den Zug nach Abisko. Eine 18 Stunden Fahrt liegt vor uns. Die Fahrgäste sehen ganz anders aus als die Menschen im schicken Stockholm oder in Kopenhagen  Ein Rentnerpaar in karierten Wollhemden, ein durchtrainierter Skilehrer und ein introvertierter Meatler schlafen in unserem 6er-Abteil. Dort im hohen Norden ist das Leben anders düncht mir. Morgens um neun wache ich langsam auf und traue meinen Augen nicht es dämmert schon aber sehr sehr langsam. In meiner Vorstellung war es nördlich des Polarkreises von November bis Februar durchgehend stockfinster. Und jetzt sowas. Ganz langsam wird es heller, wie eine ewig gedehnte blaue Stunde. 


Der Zug rollt durch endlose Taiga und hält nur selten an kleinen Bahnhöfen im Nirgendwo. Aufmerksam suche ich die Baumwipfel und Strommasten ab in der Hoffnung eine Sperbereule zu entdecken aber ohne Erfolg nur einige Kolkraben fliegen einmal am Gleis auf. Vermutlich fressen sie an einem überfahrenen Elch oder Rentier. Am späten Vormittag fahren wir durch die Bergbaustadt Kiruna. Eine Eisenbahn durch diese menschenleere Wildnis zu bauen diente ursprünglich nur dem Abtransport des Eisenerzes aus den gewaltigen Minen der Stadt. Weiter geht die Fahrt. Die Kiefern weichen zunehmend Birken und bald kommt der Torneträsk in Sicht. Der große tiefe See ist noch fast ganz eisfrei. Mittags rollt der Zug in Abisko ein, dass am südlichen Ufer des Sees liegt. Gerade aus dem Zug gestiegen erblicke ich in einer Birke jenseits der Gleise einen  Trupp Singvögel. Mein Herz schlägt schneller und umständlich krame ich das Fernglas heraus und blicke in die missgelaunten Gesichter von 23 aufgeplusterten Haussperlingen. Was für eine Enttäuschung ich hatte mindestens mit Hakengimpeln gerechnet. Das Hostel ist fast ausgebucht. In der Gemeinschaftsküche Menschen aus aller Welt, eine Gruppe indischer Studenten, eine Bulgarin, ein Schottisches Pärchen, ein Niederländischer Lebenskünstler und natürlich Deutsche. Für alle gibt es nur einen Grund hier herzukommen Polarlichter. Alle Gespräche drehen sich um die Wolkenvorhersage und den mysteriösen kp-Index ein Maß für die Intensität des Sonnenwindes, der die Lichter an den Himmel zaubert. Heute Nacht soll es kp 5 geben. Das ist wohl ganz ordentlich. Um drei ist es wieder finster. Unten am Seeufer halten wir erst jeden Quatsch für Polarlichter und bilden uns dauernd irgendwelche grünen Schleier am Himmel ein aber irgendwann beginnt es dann doch ganz schwach zieht sich ein grünes Band über dem Gipfel des Nuolja bis jenseits des Torneträsk, wird langsam intensiver, tief grün, teilt sich, biegt sich, windet sich, schlängelt sich immer schneller durch den Himmel wird wieder schwächer und taucht an anderer Stelle wieder auf. Es hypnotisiert. Irgendwann bereiten Wolken dem Spektakel ein Ende. 


Am nächsten Tag erkunden wir den Kungsleden, den Königsweg, der in Abisko beginnt. Es liegt erst wenig Schnee und wir können mühelos mit Wanderschuhen laufen. Eine geführte Schneeschuhwanderung, die uns entgegen kommt, wirkt lächerlich overdressed. Sonst treffen wir nur einen Jogger und eine Wanderin. Im Sommer soll der Weg zeitweise überlaufen sein. Einige Gimpel sitzen in einer Birke und fressen Knospen. In der Ferne trohnen die mächtigen Laporten, das Tor zu Lappland. Wir laufen bis zum ersten Meditationsstein am Ufer des Abiskojokk. Der Fluss windet sich durch das Tal, die Ufer bereits vereist. Die Landschaft ist Schwarz und Weiß und es beginnt schon wieder zu dämmern. Schweren Herzens verlassen wir Abisko am nächsten Tag mit dem Zug nach Narvik. Von hier geht es mit dem Bus weiter bis zu unserem Ziel - Tromsø. Wir kommen im Dachgeschoss einer StudentenWG unter. Am nächsten Tag fahren wir gleich an den Kaldfjord und schon nach wenigen Minuten erblicken wir die erste schwarze Finne, wie sie majestätisch das kalte Wasser teilt, ein Orca! Kurze Zeit später der nächste und eine Gruppe Buckelwale, die wenige Meter vor dem Ufer schwimmen. Der ganze Fjord wimmelt vor Walen. Sie folgen den gewaltigen Heringsschwärmen, die seit vier Jahren in den Fjorden der Kvaløya, der Walinsel westlich von Tromø überwintern. Der Name deutet darauf hin, dass es früher schon einmal dieses Phänomen gegeben haben muss. Über Photo ID konnten bisher ca. 650 verschiedene Buckelwale in den Fjorden nachgewiesen werden , die Hälfte der Population der Barent See. Orcas müssen es mindestens genau so viele sein. Wohin wir schauen erblicken wir die charakteristischen Rückenflossen. 


Doch die Tage sind noch kürzer als in Abisko und so müssen wir bald zum Kulturprogramm wechseln. Das Polarmuseum entpuppt sich als verstaubte Ansammlung von Diorahmen über das Abschlachten verschiedener arktischer Tiere. Große Teile der Ausstellung sind Henry Rudi gewidmet. Der Isbjørnkungen (Eisbärenkönig), wie er ehrfurchtsvoll genannt wird,  war ein angesehener Bürger der Stadt und meuchelte auf seinen zahlreichen Expeditionen nach Spitzbergen 713 Bären. Aber nicht etwa mit Pfeil und Bogen. Nachdem irgendwann Giftköder verboten wurden konzentrierten sich die Pelzjäger auf die Entwicklung von beköderten Selbstschussanlagen. Das größte Problem war offenbar die Mechanik der Maschinengewehre in der Kälte in Schuss zu halten und nicht an Skorbut zu sterben. Maschinengewehre kannte man, Vitamin C noch nicht. Als nächstes steht ein Besuch in der berühmten Eismeerkathedrale an und wir schlittern über die vereisten Straßen auf die andere Seite des Fjords. Die Einheimischen haben eine Art Schneeketten unter ihren Schuhen. Wenn sie damit drinnen rumlaufen klingt es als würde jemand ungelenk stepptanzen. Nachdem uns die Studentin an der Kasse der Eismeerkathedrale 80 Kronen abgenommen hatte fragt sie beiläufig ob wir auf dem Weg zum Eingang das große Glasmosaik auf der Gebäuderückseite bemerkt hätten - für sie der schönste Teil des Gebäudes. Sie sollte Recht behalten. Das Innere sieht frappierend ähnlich aus wie der Dachboden unserer Studenten WG nur mit Bänken und irgendwie größer. Ursprünglich bestand die Ostwand der Kirche aus einem gewaltigen klaren Glasfenster. Irgendwann waren die Pastoren genervt, dass in den Gottesdiensten alle Besucher Sonnenbrillen trugen und gaben besagtes Buntglasfenster in Auftrag. Der Architekt Jan Inge Hovig war nicht begeistert und betrat seine Kirche nie wieder. Ich werde es ihm gleichtun. Als Ausgleich ist dann das Nord Norsk Kunst Museum, die Gemäldegalerie Tromsøs, ganz wundervoll. Endlich kultivierte Menschen und keine Eisbärenjäger, die mit Sonnenbrillen in Gottesdiensten abhängen. Besonders angetan bin ich von einem gewaltigen Ölgemälde des norwegischen Landschaftsmalers Adelsteen Normann. Es zeigt den Hafen von Bodø. Im Hintergrund gewaltige Berge unter einem erhabenen blauen Himmel mit weißen Wolken. Abends lese ich auf Wikipedia über den Künstler, dass er von internationalen Museum lange als nicht sammelwürdig eingestuft wurde. Hitler kaufte 1943 ein Gemälde für das Führermuseum in Linz. Gegen Ende von Normanns Schaffensperiode spezialisierte er sich auf die Serienproduktion von ähnlichen Fjordlandschaften mit blauem Himmel, die sich gut an deutsche Touristen verkauften. Ertappt und beschämt gehe ich schlafen.


Scheinbar jeder in Tromsø, der ein Boot besitzt hat in den letzten Jahren ein Whalewatching Unternehmen gegründet und auf einem dieser Schiffe, einem alten Holzkutter, stechen wir am nächsten Morgen von Kvaløyvågen in See. Das Wasser des Fjords ist glatt wie ein Spiegel. Die Berge weiß und mächtig und der Himmel tief blau. Der erste schöne Tag in diesem Regenloch. Bald finden wir die ersten Buckelwale. Sie zeigen ihre beeindruckende Jagdtechnik. Eine Gruppe Buckelwale taucht ab und teilt sich auf. Einige Tiere umkreisen die Heringe auf der Seite schwimmend, ihre weißen Bäuche und Flipper halten die Fische beisammen. Ein weiteres Tier umkreist den Schwarm ebenfalls und erzeugt einen Schleier aus Luftblasen, der die Tiere weiter beisammen hält, dann taucht ein Tier unter den Schwarm und scheucht diesen mit einem markerschütternden Schrei Richtung Oberfläche. Die ganze Gruppe taucht nun von unten in den Schwarm und durchbricht die Wasseroberfläche. Von oben betrachtet sieht man lange nichts bis das Wasser plötzlich vor Heringen brodelt und kurz darauf die weit geöffneten Mäuler der Wale durch die Oberfläche stoßen und übereinander purzeln. Immer wieder beobachten wir das Spektakel in den wenigen hellen Stunden auf dem Wasser. Die Wale werden von hunderten Silbermöwen begleitet dazwischen auch einzelne Eismöwen, vor allem Jungvögel. Auch Eisenten und Tordalke sehe ich einige. Von Prachteiderenten leider keine Spur und auch Orcas machen sich heute etwas rarer doch zwei große Bullen und zwei Familien sehen wir dann doch noch. Es ist schön, dass die Norweger heutzutage Wale beobachten statt Eisbären zu jagen und ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen besseren und schöneren Ort auf der Welt gibt, um Orcas und Buckelwale zu sehen als die Fjorde der Kvaløya.



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